05.11.2025

Führung ohne Schablone: So funktioniert situatives Leadership in der Praxis

Ein starres Führungsverhalten, das keine Unterschiede zwischen Person A, B oder C macht, lässt Mitarbeitende schnell zu stromlinienförmigen Marionetten werden. Denn auch wenn sich Führungsstile in der Theorie klar kategorisieren lassen, zeigt der Arbeitsalltag: Kein einziger Ansatz funktioniert in jeder Situation. Menschen bringen unterschiedliche berufliche Erfahrungen, Persönlichkeiten und Bedürfnisse mit − Führung nach Schema F greift hier zu kurz.

Ein starres Führungsverhalten, das keine Unterschiede zwischen Person A, B oder C macht, lässt Mitarbeitende schnell zu stromlinienförmigen Marionetten werden. Denn auch wenn sich Führungsstile in der Theorie klar kategorisieren lassen, zeigt der Arbeitsalltag: Kein einziger Ansatz funktioniert in jeder Situation. Menschen bringen unterschiedliche berufliche Erfahrungen, Persönlichkeiten und Bedürfnisse mit − Führung nach Schema F greift hier zu kurz.

Genau an diesem Punkt setzt das Konzept des situativen Führens an. Statt starrer Regeln steht die Anpassung des Führungsverhaltens an den individuellen Kontext im Fokus – orientiert an Person, Situation und Umfeld.

Wer als Führungskraft ohne Scheuklappen handeln will, weiß: Ein neuer Teamkollege braucht eher klare Orientierung, während langjährige Mitarbeitende sich Freiraum zur Gestaltung wünschen. Ein eingespieltes, eigenverantwortliches Team wird durch Micromanagement ausgebremst – ein Team in der Krise dagegen braucht stärkere Führung. „Kommt Zeit, kommt Rat“ ist hier mehr als ein Sprichwort: Entscheidend ist die Fähigkeit, den richtigen Stil zur richtigen Zeit zu wählen.

Im folgenden Beitrag klären wir, was genau hinter dem situativen Führungsstil steckt und wie er sich im Reifegradmodell von Paul Hersey und Ken Blanchard abbildet. Anhand realistischer Beispiele zeigen wir, wann situative Führung funktioniert – und wo sie an ihre Grenzen kommt. Abschließend betrachten wir, wie Unternehmen das Modell wirksam in der Führungskräfteentwicklung verankern können.

Eine Definition des situativen Führungsstils

Im Kern basiert dieser Führungsansatz auf einer Erkenntnis, die schon vor mehr als 50 Jahren formuliert wurde: Der passende Führungsstil hängt vom Entwicklungsstand der Mitarbeitenden ab – also von Erfahrung, Kompetenz und Motivation. Situatives Führen ist deshalb kein eigener, abgeschlossener Stil, sondern ein flexibler Rahmen, der sich immer an der jeweiligen Situation orientiert.

Dabei spielen vier Grundprinzipien eine zentrale Rolle:

Adaptivität:

Was in einer Situation funktioniert, kann in einer anderen scheitern. Situative Führung verlangt Flexibilität – statt eine feste Schablone auf alle Mitarbeitenden zu legen.

Individuelle Bedürfnisse:

Jede Person bringt unterschiedliche Stärken, Lernwege und Herausforderungen mit. Gute Führung bedeutet, diese zu erkennen und die eigene Kommunikation, Unterstützung und Entscheidungslogik darauf abzustimmen.

Kontextsensitivität:

Ob Einarbeitung, Routinebetrieb, Krisenmodus oder Innovationsphase – der Kontext bestimmt, ob Führung eher anleitet, begleitet oder loslässt.

Nichts ist in Stein gemeißelt:

Situatives Führen ist ein Prozess aus Reflexion und Neujustierung – im Dialog mit sich selbst und dem Team. Wer auf diesem Weg führt, braucht Selbstbewusstsein, Lernbereitschaft und die Fähigkeit zur ehrlichen Selbstkritik.

Das Reifegradmodell nach Hersey und Blanchard

Bereits 1969 legten Paul Hersey und Ken Blanchard die theoretische Grundlage für das Modell des situativen Führens. Ihr zentrales Prinzip: Der Führungserfolg hängt davon ab, wie gut sich der Führungs-stil an den Reifegrad der Mitarbeitenden anpasst.

Dazu definierten sie vier Reifegrade, die aus zwei Faktoren entstehen: Fähigkeit (fachliche Kompetenz) und Wille (Motivation bzw . Eigenverantwortung):

Reifegrad 1: nicht fähig und nicht willig

Reifegrad 2: nicht fähig, aber willig

Reifegrad 3: fähig, aber nicht willig

Reifegrad 4: fähig und willig

Darauf aufbauend entwickelten sie vier passende Führungsstile, die je nach Entwicklungsstand des :der Mitarbeitenden eingesetzt werden sollen:

Telling (Dirigieren):

Bei Reifegrad 1 dominiert ein klarer, direktiver Führungsstil: konkrete Anweisungen, enge Kontrolle, klare Zielvorgaben.

Selling (Überzeugen):

Bei Reifegrad 2 werden Aufgaben weiterhin vorgegeben, aber mit mehr Erklärung, Einbindung und Motivation. Ziel: Verständnis schaffen und Selbstvertrauen aufbauen.

Participating (Teilhaben):

Bei Reifegrad 3 rückt die gemeinsame Entscheidungsfindung in den Vordergrund. Führung moderiert, statt zu steuern – Mitarbeitende werden aktiv beteiligt.

Delegating (Delegieren):

Bei Reifegrad 4 können Aufgaben nahezu vollständig übergeben werden. Hohe Fachlichkeit + hohe Motivation = maximale Eigenverantwortung.

Das Modell zeigt deutlich: Ein „One-Size-Fits-All“-Führungsstil funktioniert nicht.

Beispiele für situatives Führen

Um das Modell greifbarer zu machen, schauen wir uns zwei Praxisbeispiele an, die zeigen, wie situative Führung in unterschiedlichen Kontexten angewendet werden kann – und warum ein einheitlicher Führungsstil dabei schnell an Grenzen stößt.

Beispiel 1: Vertriebsteam mit gemischtem Erfahrungsstand

Bei der NovaSales GmbH leitet Marcel von Hoffmann ein kleines Vertriebsteam. Es besteht aus Felix Bender, der erst vor Kurzem gestartet ist, und Zara Weigand, einer sehr erfahrenen Top-Performerin mit eindrucksvoller Erfolgsbilanz.

Felix (Reifegrad 1–2)

Felix ist motiviert, aber noch wenig erfahren. Marcel reagiert darauf mit klaren Anweisungen, enger Begleitung und regelmäßigen Feedbackschleifen – also Telling. Er erklärt nicht nur was zu tun ist, sondern auch warum, um Sicherheit und Verständnis zu schaffen.

Zara (Reifegrad 4)

Zara hingegen braucht keine Schritt-für-Schritt-Begleitung. Sie kennt Kund:innen, Produkte und Prozesse und arbeitet hoch eigenverantwortlich. Marcel wechselt in den Delegating-Modus: Er gibt Ziele vor, überlässt ihr aber die Umsetzung. Ergebnis: Sie bekommt Wirksamkeit, er spart Steuerungsaufwand.

Eine einzelne Führungslogik würde hier scheitern.

Zara wäre durch Mikromanagement ausgebremst – Felix wäre mit kompletter Freiheit überfordert.

Beispiel 2: Situative Führung im Krisenmoment

Beim Beratungsunternehmen Schroeder & Partner Consulting kündigt ein wichtiger Großkunde. Das Team ist jung, grundsätzlich kompetent, aber spürbar verunsichert. Der Druck ist hoch, die Atmosphäre angespannt.

Geschäftsführerin Heidi Brunner nutzt zunächst den Selling-Ansatz:

Sie erklärt offen die Lage, nimmt Ängste ernst und zeigt gleichzeitig klar auf, warum die geplanten Maßnahmen sinnvoll und machbar sind. So aktiviert sie Engagement statt Schockstarre.

Sobald erste Fortschritte sichtbar werden, wechselt sie in den Participating-Modus:

Sie holt das Team stärker in Entscheidungen, organisiert Workshops und ermöglicht echte Mitgestaltung. Das fördert Selbstorganisation und stärkt das Vertrauen in die eigene Problemlösefähigkeit.

Was man daran gut sieht:

Situatives Führen ist kein einmaliger Stil, sondern ein ständiger Wechsel zwischen Steuerung und Freiraum – abhängig vom Entwicklungsstand und der Situation.

Vorteile und Nachteile des situativen Führungsstils

Das situative Führungsmodell wirkt in der Theorie überzeugend – in der Praxis zeigt es jedoch sowohl klare Stärken als auch Herausforderungen. Ein Überblick:

✅ Vorteile

Maßgeschneiderte Unterstützung statt Einheitsführung

Mitarbeitende werden nicht über einen Kamm geschoren. Jede Person bekommt genau das Maß an Anleitung, Coaching oder Freiraum, das sie aktuell benötigt. Das steigert Motivation, Leistungsfähigkeit und Bindung – besonders bei unterschiedlichen Erfahrungslevels im Team.

Fördert Eigenverantwortung und Innovationskraft

Wo Führung nicht auf Kontrolle, sondern auf Entwicklung setzt, entsteht Raum für neue Ideen. Teams trauen sich, Dinge auszuprobieren, statt nur auszuführen. Das macht Organisationen schneller, kreativer und anpassungsfähiger.

Entwickelt auch Führungskräfte weiter

Situatives Führen ist kein Automatismus – es fordert aktives Zählen-lernen: beobachten, reflektieren, anpassen. Führungskräfte arbeiten dadurch automatisch an Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit und emotionaler Intelligenz.

⚠️ Nachteile

Erhöhter Schulungs- und Coachingbedarf

Situatives Führen setzt voraus, dass Führungskräfte Entwicklungsstände richtig einschätzen – und wissen, wie man je nach Situation angemessen führt. Das lässt sich nicht „mal eben so“ aus dem Bauchgefühl erledigen.

Gefahr von Inkonsistenz und Missverständnissen

Wechselt ein:e Leader:in häufig den Führungsstil, ohne es transparent zu erklären, wirkt das schnell sprunghaft oder unfair. Besonders problematisch wird es, wenn Mitarbeitende sich im Reifegrad anders einschätzen als die Führungskraft.

Mehr Aufwand im Zeit- und Kommunikationsmanagement

Wer situativ führt, muss regelmäßig beobachten, einschätzen, Feedback geben, Ziele anpassen und Gespräche führen – das braucht Kapazität. In stressigen Phasen kann genau das zur ersten Sache werden, die „unter den Tisch fällt“.

Bewusste Führungskräfteentwicklung

Damit situatives Führen nicht nur eine schöne Theorie bleibt, braucht es gezielte Entwicklungsarbeit – sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene. Unternehmen, die das Modell wirklich verankern wollen, setzen auf drei zentrale Bausteine:

Trainings & Simulationen

Workshops, Rollenspiele oder Führungslabore helfen dabei, verschiedene Führungssituationen realitätsnah zu üben: vom Krisengespräch bis zur Delegation. So entsteht Sicherheit im Wechsel zwischen den vier Führ-Stilen.

Mentoring & Peer-Training

Erfahrene Führungskräfte geben Ein blicke in ihre Praxis, während Peer-Formate den Austausch auf Augen -höhe stärken. Das macht gelebte Führungskultur sichtbar – und nicht nur „absendbar“.

Cross-funktionale Zusammenarbeit als Praxistest

Teams mit unterschiedlichen Disziplinen, Hierarchien oder Aufgaben bieten die perfekte Lernumgebung. Denn wer situativ führen will, muss nicht nur Menschen verstehen – sondern auch Kontexte.

Fazit: Situativ führen = Auf Menschen reagieren, nicht auf starre Modelle

Situatives Führen zeigt – gute Führung ist kein Schema, sondern ein Prozess. Wer Mitarbeitende entwickeln will, führt nicht starr von oben, sondern passt sich bewusst an Fähigkeiten, Motivation und Rahmenbedingungen an.

Das Modell macht deutlich:

Führung ist kein statischer Status, sondern ein Wechselspiel.

Teams entwickeln sich – und Führung muss sich mitentwickeln.

Empowerment entsteht nicht durch Delegation allein, sondern durch gezielte Begleitung.

Situativ führen heißt also: wissen, wann klare Ansagen helfen – und wann Verantwortung stärken. Kurz: Führung wird wirksam, wenn sie sich bewegt.

Situativer Führungsstil – FAQ

Ist situatives Führen das gleiche wie adaptive Führung?

Nicht ganz. Situatives Führen orientiert sich primär am Reifegrad der Mitarbeitenden. Adaptive Führung bezieht zusätzlich externe Faktoren wie Marktveränderungen, Krisen oder Organisationsstrukturen mit ein.

Welcher Reifegrad kombiniert hohe Motivation mit wenig Erfahrung?

Das entspricht Reifegrad 2 im Hersey-Blanchard-Modell: „willig, aber (noch) nicht fähig“. Hier empfiehlt sich der „Selling“-Stil: erklären, überzeugen, aufbauen.

Ist situatives Führen wissenschaftlich belegt?

Die Grundidee ist plausibel, empirisch aber schwer messbar – insbesondere, weil der Reifegrad subjektiv bewertet wird. In der Praxis funktioniert das Modell vor allem als Orientierung, nicht als starre Wissenschaft.

Wann stößt situatives Führen an Grenzen?

Zum Beispiel bei sehr großen Teams, extrem hohen Arbeitslasten oder in Kulturen, die wenig Selbstorganisation zulassen. Ohne Feedbackkultur und Vertrauen bleibt das Modell Theorie.